[STANDING UP IN PLACE OF EXTINCTION. An Interview with Roger Hallam in German]

Extinction Rebellion (XR) sorgt mit sozialem Ungehorsam international für Aufruhr. Roger Hallam, Mitbegründer der Bewegung, über die Klimakatastrophe und die Dringlichkeit, sich dieser Realität jetzt zu stellen.

XR ist in seinem Ursprungsland, dem Vereinigten Königreich, bereits sehr bekannt. In Österreich, insbesondere Graz, hört man noch relativ wenig von der Bewegung. Was ist XR? Wie ist sie entstanden?

Roger: Aller Ausgangspunkt ist: Die Menschheit stirbt aus. Ein zweiter Punkt lautet: Das ist keine Meinung sondern eine wissenschaftliche Vorhersage. Sofern wir weiterhin Kohlenstoffemissionen in die Luft abgeben, steuern wir auf unseren Abgrund zu. Und das wird sich ohne radikalen Umbruch nicht ändern, weil unser gesamtes ökonomisches System darauf beruht den Planeten zu zerstören und Kohlenstoff in die Atmosphäre abzugeben. Wir haben es hier also mit der Mutter aller Krisen zu tun. XR ist entstanden, weil eine kritische Masse entschieden hat, alles Nötige zu tun, um das Existieren der Menschheit zu verlängern. Journalisten meinen häufig: „Lass’ uns doch mit XR über diese spezielle Angelegenheit sprechen!“ Es ist nicht wirklich eine Angelegenheit. Es ist eine Katastrophe, die jede andere Angelegenheit betrifft, egal ob Arbeiter/innenrechte, Bürger/innenrechte, Frauenrechte, die Rechte aller. Es ist eine fundamentale Krise. Viele Menschen haben diese Geschichte offensichtlich noch nicht ganz verstanden. Diese Geschichte ist die Realität.

Diese Ansicht teilen die meisten Klimaschutz-Bewegungen. Wie unterscheidet sich XR von anderen, wie z.B. Fridays for Future?

Roger: Wir kommunizieren durch gewaltfreien zivilen Ungehorsam. Wir brechen explizit das Gesetz, wodurch Menschen angezeigt und inhaftiert werden, so wie es bereits in anderen Phasen zivilen Widerstands (z.B. im 20. JH) geschehen ist. Das und die Massenbeteiligung unterscheiden uns von anderen Bewegungen. Wir sind zwar ähnlich wie FFF, binden aber die gesamte Bevölkerung ein, nicht nur junge Menschen.

Die Strategien von XR sind radikal. Besteht dabei nicht die Gefahr die Bevölkerung zu polarisieren, was im schlimmsten Fall zu Gewalt führen könnte?

Roger: Wer so etwas sagt, hat sich offensichtlich noch nicht emotional mit der Realität der Katastrophe auseinandergesetzt. Anderenfalls wäre klar, dass es mehr als gerechtfertigt ist, das Risiko von Gewalt einzugehen. Die Alternative ist Massentod, massenhaftes Verhungern und eine Metzelei von Milliarden von Menschen innerhalb der nächsten zwei Generationen. Das Gewaltrisiko wird außerdem durch die Strukturen bei XR, welche gewaltfreie Disziplin fördern, begrenzt. Wir bieten Trainings an, in welchen die Werte der Bewegung vermittelt werden. Im Gegensatz zu FFF hat XR eine bestimmte Ideologie, ein bestimmtes Entscheidungsfindungssystem, ein systematisches Trainingsprogramm und ein komplexes und umfangreiches Arbeitssystem. Es ist international und gut organisiert. XR unterscheidet sich von den Social Media-basierten Mobilisierungen der letzten ein bis zwei Jahrzehnte. Diese endeten meist im Chaos, weil sie keine richtigen Entscheidungssysteme hatten und ihre Werte nicht klar definiert waren. Ohne Strukturen sind Bewegungen nicht nachhaltig.

Die Bilder des brennenden Amazonas haben mich in den vergangenen Wochen sehr mitgenommen. Dennoch: Einen Moment lang bin ich schockiert, im nächsten tauche ich wieder in meine Blase ein. Warum sind viele Menschen scheinbar immun gegen solche Nachrichten? Wie versucht XR zu ihnen durchzudringen?

Roger: Menschen erreicht man nicht durch Information. Wenn das möglich wäre, hätten wir es in den letzten 30 Jahren schon längst geschafft. Menschen ändern ihre Meinung nur aufgrund extremer, seelischer Belastung. Diese muss durch massenhafte
Wirtschaftsstörungen (mass economic disruption) in den westlichen Gesellschaften innerhalb der nächsten zwei Jahren geschaffen werden. Durch diese seelische Belastung werden die Menschen emotional realisieren, dass die Klimakatastrophe echt ist. Was XR also versucht, ist, im Hier und Jetzt ein kleines Stück jener Hölle – wie sie einmal eintreffen könnte – zu kreieren, sodass die Menschen sich gegen die absolute Hölle entscheiden, welche unvermeidlich ist, solange wir nichts ändern. XR bietet zudem einen Handlungsweg. Wir befinden uns auf dem Weg zu unbeschreiblichem, menschlichem Leid und die angemessene Antwort darauf ist Rebellion – nicht primär um Erfolg zu haben, sondern um die psychische Gesundheit zu erhalten. Die effektivste Weise, psychische Gesundheit im Angesicht radikalen Übels zu erhalten ist, dieses zu bekämpfen, egal ob man dabei überlebt oder stirbt. Wir glauben, das ist der einzige konstruktive Weg in unserer momentanen Lage. XR verbreitet sich rasch auf der ganzen Erde weil Menschen offen ihre Trauer und ihr Entsetzen ausdrücken und die ungeschminkte Wahrheit verbreiten, nämlich dass wir es hier mit Massentod der menschlichen Bevölkerung, unserer eigenen Verwandten und der Menschen die wir lieben zu tun haben. Diese Strategie stehen im Gegensatz zur Kohlenstoffindustrie, welche die Bevölkerung seit 30 Jahren in Bezug auf den Ernst der Lage anlügt. Sie veröffentlichen Informationen auf solch abstrakte Weise, sodass die Menschen von der Realität abgeschirmt werden. Das hält sie davon ab, dagegen aktiv zu werden und das macht sie depressiv. Nur Widerstand gegen das radikale Übel kann Menschen materiell und spirituell schützen. NGOs sprechen z. B. abstrakt von sozialen Zusammenbrüchen aber nicht konkret von Körperteilen in den Straßen Wiens. Genau das ist jedoch sozialer Kollaps: Massenvergewaltigungen, Massenmorde von Millionen von Menschen, ein gesellschaftlicher Alptraum der Jahrzehntelang andauert bevor letztlich alle verhungern.

Massenhaftes Verhungern soll letztlich unser Aussterben verursachen. Während der Klimawandel fortschreitet, gibt es jedoch auch Fortschritte in Wissenschaft und Technologie. Ich denke da z.B. an In-vitro-Fleisch – eine mögliche Alternative zu Fleisch aus Viehhaltung. Was denkst du über solche Entwicklungen?

Roger: Diese Dinge wirken immer in zwei Richtungen. Es ist absolut wichtig, dass Technologien entwickelt werden um die bereits bestehende Katastrophe einzudämmen. Um eine Gesellschaft auf struktureller Ebene innerhalb kürzester Zeit zu verändern, braucht es jedoch massenhafte Wirtschaftsstörungen (mass economic disruption). Wenn die wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen in Widerspruch zum eigentlichen Ziel – der wirtschaftlichen Zerrüttung (economic disruption) – stehen, lässt sich der strukturelle Wandel, den wir brauchen, nicht erreichen.

Struktureller Wandel klingt so also müsste sich auf politischer Ebene viel ändern. Was schlägt XR konkret vor?

Roger: XR macht keine konkreten Vorschläge. Viel mehr wollen wir das politische System dazu bringen, dass es gewöhnlichen Menschen erlaubt wird, sich zu beteiligen und mitzuentscheiden ob wir sterben sollen oder nicht. Zufällig gewählte Personen aus dem ganzen Land, wie Bauarbeiter/innen, Lehrer/innen, Schüler/innen usw., sollen in einer Bürger/innenversammlung zusammenkommen und die Gesamtheit der Gesellschaft repräsentieren. Anhand der Fakten über die Klimakrise sollen sie entscheiden, welche Maßnahmen getroffen werden. Das hat zwei Vorteile: Erstens ist die demokratische Herangehensweise die effektivste Form um rationale Lösungen für
politische Problem zu entwickeln. Zweitens bietet eine Bürger/innenversammlung am ehesten die soziale und politische Legitimität für die extremen Maßnahmen, welche notwendig sind. XR ist keine traditionelle Bewegung mit einem klassischen Programm. Eine offensichtliche Forderung ist allerdings, die Treibhausgasemissionen bis 2025 auf null zu reduzieren.

Das ist eine extreme Forderung. Hast du bewusst so hoch angesetzt um in die Nähe des Ziels zu kommen oder ist dieser Anspruch ernst gemeint?

Roger: Absolut ernst gemeint. Null ist der Plan.

XR bietet einerseits kein konkretes Programm an. Andererseits stellt ihr vieles in Frage, wies es jetzt ist…

Roger: Wir stellen das Programm in Frage, das momentan existiert – ein Programm zur Auslöschung der Menschheit in den nächsten ein bis zwei Generationen. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als gerechtfertigt die Ökonomie in den nächsten 5 Jahren zur Null-Emission zu transformieren. Es ist absolut möglich und gerechtfertigt. Bei XR geht es nicht darum Kompromisse mit der Realität einzugehen. Bei XR geht es darum sich der Realität zu stellen und auf Grundlage dieser Realität zu handeln. Deswegen ist es auch unpolitisch. Es geht nicht darum ein bestimmtes politisches Programm durchzubringen.

Ihr versucht alle Menschen unabhängig von ihrer politischen Gesinnung anzusprechen. Habt ihr auch Aktivist/innen aus dem rechten politischen Spektrum?

Roger: Die meisten Menschen, die uns anfangs beigetreten sind, sind eher links. Doch die große Herausforderung ist es, Menschen anzusprechen die überhaupt politisch motiviert sind. Die meisten politisch engagierten Menschen in der westlichen Welt sind süchtig nach menschlichem Fortschritt. Das macht sie blind gegenüber der Realität. Jene Menschen, die sich verhaften oder einsperren lassen, sind normalerweise gewöhnliche Personen, die nichts mit Politik am Hut haben. Sie sorgen sich eher darum ob ihre Kinder einmal überleben oder sterben werden. Und das ist eine universelle Sorge. Einer der größten strategischen Fehler der Klimabewegung ist der Fokus auf linker Sprache und linker Menschen. Es sind die gewöhnlichen Menschen, die einen Unterschied machen. Wenn ich mit Politiker/innen spreche, sind sie meist weniger daran interessiert ins Gefängnis zu gehen, während viele Frauen über 50 bereit dazu sind.

Wir kommen zum „Ende“ – auch das Thema unserer Ausgabe. Im Zuge der Klimadebatte hört man dazu unterschiedliche Zahlen. Was denkst du, über welche Zeitspanne sprechen wir hier?

Roger: Meiner Meinung nach ist das eine obszöne Debatte, an welcher man nicht teilhaben sollte. Es ist grotesk, zu überlegen ob es sich um 20, 40 oder 100 Jahre handelt. Da geht es um einen Wimpernschlag in der Menschheitsgeschichte. Die moralische Notwendigkeit lautet: Egal wie schlimm die Situation gerade ist – wir müssen gegen die politischen Institutionen rebellieren. Aufgrund ihres kriminellen Verhaltens, keine extremen Maßnahmen zu ergreifen, ist diese Rebellion auf jeden Fall gerechtfertigt. Ich werde deine Frage also nicht beantworten. Wenn du diese Frage stellst hast du die Realität offensichtlich noch nicht begriffen. Was ich den Leser/innen zu diesem Thema mitgeben möchte: Wir stehen bereits vor dem Ende. Die Menschheit war stets mit dem Ende konfrontiert. Jedes Individuum muss sich seinem eigenen Tot stellen. Es ist nichts besonders oder ungewöhnlich am Ende. Wir werden alle sterben. Die Frage ist nicht ob wir sterben oder nicht, sondern ob wir ein Leben gelebt haben, dass für alles andere auf dem Planeten Tot bedeutet hat. Unsere moralische Verpflichtung ist es, dem entgegenzuwirken. Die wahre Frage des Lebens ist nicht, ob man dabei erfolgreich ist oder nicht, sondern ob man das Richtige versucht hat. Wenn du auf deinem Sterbebett liegst, denkst du dann, du hast ein würdiges Leben gelebt oder eine Lüge? Hast du die Dinge getan oder untersagt, von denen du wusstest, du hättest sie tun müssen? Kannst du mit dir selbst leben oder nicht? Das sind die wahren Fragen die wir uns stellen sollten, nicht jene Spekulationen darüber wie viele Millionen Menschen bis wann leiden und verhungern werden.

Noch eine persönliche Frage: Angesichts der globalen Verstrickungen und unfassbaren Machtstrukturen, kann es sehr deprimierend und aussichtslos wirken, sich gegen das Fortschreiten der Klimakatastrophe zu engagieren. Wie schaffst du es, dich und andere zu motivieren dranzubleiben?

Roger: In der westlichen Gesellschaft steht das Ego im Zentrum. Es muss unterhalten, umsorgt und befriedigt werden. Das ist keine besonders erfolgreiche Art und Weise sich dem Leben und der Frage anzunähern, was es bedeutet zu existieren, wer man ist oder
meint zu sein. Fakt ist, wir wissen nicht wirklich, wer wir sind. Und wir wissen definitiv nichts über die Realität. Wir wurden einfach in dieses Leben geworfen. Ich schlage vor, dass wir uns wieder mit den spirituellen und religiösen Traditionen verbinden, welche Menschen durch lange Perioden der Menschheitsgeschichte hinweg getragen haben. Auf den Punkt gebracht heißt das: Wir müssen unseren narzisstischen Individualismus überwinden und uns in den Dienst für das Wohl anderer stellen. Dadurch wird das was uns selbst passiert viel unwichtiger. Wir haben keine Kontrolle über den Ausgang von allem. Was wir kontrollieren können ist, ob wir ein gutes Leben führen. Und ein gutes Leben besteht darin uns in den Dienst anderer zu stellen. Alles hängt davon ab ob die Menschen diese narzisstische Be-First-Kultur überwinden können, in der wir uns befinden. Außerdem ist es höchst motivierend, sich auf einen Kampf gegen das radikale Böse
einzulassen, wenn man Sinn im Leben sucht. Das hat einen gewissen ruhmvollen Aspekt, egal ob wir als Ergebnis dieses Kampfes überleben oder sterben werden. Genau genommen ist es ein Geschenk, denn es gibt uns einen Grund zu existieren. Was wäre eine bessere Art dein Leben zu leben als für die Menschheit zu kämpfen? Nicht so schlecht, oder?! (lacht)

Ein gängiges Argument lautet, jede/r müsse bei sich selbst ansetzen. Schüler/innen auf FFF-Demos mit Smartphones in den Händen werden daher oft nicht ernst genommen und gelten als heuchlerisch und widersprüchlich. Ist es genug bei sich selbst anzusetzen? Was hältst du von solchen Argumenten?

Roger: Fakt ist, wenn man eine Gesellschaft innerhalb kürzester Zeit und möglichst effektiv verändern möchte, muss man die Kontrolle über den Staat übernehmen oder den Staat dazu zwingen die gesellschaftlichen Regeln zu ändern. Diese Regeln werden durch die Gesetze festgelegt und diese wiederum durch die Legislative. Wir müssen also die Regierungen übernehmen um wirklich etwas verändern zu können. Das heißt nicht, dass individuelles Handeln nicht wichtig wäre. Und natürlich – ob du ein Leben in Integrität lebst oder nicht – beeinflusst ob du dich Aktionen anschließt, welche zum Leid anderer beitragen. Schlussendlich musst du aber mit dir selbst leben und es liegt an dir.
XR beurteilt Menschen nicht. Die Menschen werden sich zweifelsohne in ein paar Jahren selbst beurteilen. Mein Rat wäre also, sich selbst ernsthaft zu fragen, wie du mit dir selbst leben können wirst, anstatt wie du auf die Kritik anderer antworten sollst. Mein letzter Punkt ist: Du kannst mit Menschen unendlich diskutieren. Sie ändern sich nicht durch Informationen und Argumente. Sie ändern sich nur durch seelische Belastung und diese wird durch wirtschaftliche Zerrüttung (economic disruption) hervorgerufen. Auf diese Weise werden die Menschen sich dieser Krise stellen.

Interviewer: Julia Reiter

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